LINIEN
Es besteht kein Maurer mit einem fertiggestellten Haus, kein Schneider mit einem neuen Anzug, kein Kartograph mit absoluten Kenntnissen über Raum und Grenzen. So sprach Professor Radivojević seinen Studenten zu Beginn eines jeden Semesters und gab ihnen zur Kenntnis, dass es sich beim Lernen, der Arbeit und Fortbildung um Prozesse handelt, die lebenslang dauern. Dies war kein bloßes Gerede, um die Studienanfänger einzuschüchtern. Professor Radivojević lebte tatsächlich so: Spezialisierung in Polen, Dissertation an der Lomonosow-Universität, kartographische Projektionen, mehrmonatige Messungen, topographische Aufnahmen, Konferenzen und Kongresse, kartographische Zeichen, Linien.
Linien!
Gestrichelte, gebrochene, gerade und gewundene. Linien! Exakt eingezeichnet waren sie für ihn der nächste Schritt zur Perfektion, die großartigste Reichweite der menschlichen Fähigkeiten. Er zeichnete sie mit einer Liebe, die er nie gegenüber Frauen fühlte, mit der Aufmerksamkeit eines fanatischen Spions, mit der Begeisterung, die nur ein Gläubiger nach seiner endgültigen Ankunft am Pilgerort fühlen kann. Die Linien quer über das Papier zeichnend zog Professor Radivojević Linien auch um sich herum und baute dabei eine unsichtbare und unüberwindbare Barriere auf. Der Kerker, in dem er sich eingemauert hatte, lehnte auch die hartnäckigsten Sehnsüchte von Frauen und die beharrlich freundschaftlich ausgestreckten Hände ab. Er wurde zum Gefangenen seiner eigenen Leidenschaft, und die launischen Grenzen und trügerischen und verräterischen Linien waren alles was er bedurfte, um glücklich zu sein. Er lebte alleine, eingemauert mit staubigen Karten und feuchten Atlanten.
Der Professor glaubte fest daran, die meisten Geheimnisse des Raums wahrgenommen zu haben. Des gleichen Raums, wo Liebe und Kinder geboren werden, bemalt mit Graffiti, zugeschüttet mit einem Haufen Müll, wo in zyklischen Tsunami der Geschichte Hass und Feindschaften auferstehen. Des Raums, den er so selten betrat. Indem er Kartografie und ihre Geschichte von Ptolemäus über Al-Idrisi bis zu Keppler, Mercator und andere studierte, ergründete Radivojević die Errungenschaften der Menschheit, die Entwicklung des menschlichen Denkens, der Wissenschaft und der Philosophie. Daher ist auch seine Gelassenheit und Überzeugung, die Welt in der er lebt zu kennen, nicht
verwunderlich. Er selbst erahnte nicht, wie unberechenbar der umliegende Raum ist, diese grausame Krankheit, diese ihn umschließende Zellmembran aus dünnen Linien, die ihn bedroht.
Linien!
Sie kommen, aber nicht so wie früher, wie er sie sich in seinen Träumen herbeisehnt. Sie kommen unberufen! Und schon sind sie da, hinter dem Hang dort, ringeln sich, knicken, springen und zischen wie Klapperschlangen, und mit jedem giftigen Zucken verschwinden neue Kolonnen im leeren Raum, in das unbekannte Weiße der blinden Karte.
Gerade das Weiße war alles, was er an jenem Morgen sah, als er in einer von den Kolonnen stand. Der nicht eingezeichnete Bereich unter dem Schnee lag vor ihm wie ein riesiges Bettlaken für die letzte Ruhe. Zum ersten Mal erschrak der alte Professor vor dem Grauen des Raums, weil es zum ersten Mal nicht er war, der die Linien zog und die Grenzen zeichnete. Dies tat nun die Hand eines Geistes, von dem er dachte, schon längst verschwunden zu sein. Zum ersten Mal wusste Professor Radivojević, akademische Größe und unbestrittene Autorität, nicht, wo er sich befindet und wohin es geht. Er war völlig verloren; er, dessen Jahre durch seine auf geographische Karten fokussierten Pupillen weggeflossen sind; der, der die Sphäre von Geoiden mit der Leichtigkeit eines Alchemikers in eine Gerade umwandelte; er, der Wasserscheiden, Hauptstädte, Migrationsbewegungen, Becken, Bergketten – und Täler, Gebiete einzelner Ethnien und die Verbreitung von bestimmten Sprachen und kulturellen Einflüssen einwandfrei kartierte. Wie eine verrückt gewordene Nadel des auf einen Tisch gestellten Kompasses drehte er sich im Kreis herum, verstört, und versuchte zu erkennen, durch welche Schlucht ihn diese Kolonne führe. Anders als die Anderen hatte er niemanden den er besuchen könnte – keine Kinder, keine nahen Verwandten, keine richtigen Freunde. Niemanden. Das einzige was er mitgebracht hat war das Buch von Ratimir Gašparević „Bosnien und Herzegowina auf den geographischen Karten von den Anfängen bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts“ (Sarajevo, 1970), das sich an jenem Morgen auf seinem Arbeitstisch befand. Das Buch von Ratimir Gašparević. Ratimir. Krieg und Frieden.[1]
Während der nächsten Tage, auf dem Weg nach Banja Luka, wohin sich die meisten Flüchtlinge begaben, blätterte Radivojević vergeblich durch das Buch und suchte irgendeine Spur, irgendeine Antwort auf die nicht gestellten, doch offensichtlichen Fragen. In diesen Augenblicken erinnerte er sich an die Wahrsagerin von der Messe, die Handlinien von Leichtgläubigen begafft. Er kannte jede Referenz in diesem Buch, jede Karte, jede Linie, jede Grenze. Es schien ihm – trotzdem nichts zu wissen.
– Ach, mein lieber Professor, wo lebst denn du? Noch ein bisschen, dann kommt schon das einundzwanzigste Jahrhundert und du wühlst nach etwas herum, was schon längst vorbei ist – sagte ihm ein Bauer, der ihn Tage zuvor beobachtete, wie er nervös in den Seiten seines wertlosen Gepäcks herumkramt.
– Wo ich lebe? Wohin ich gehe? Wo ist das? Was ist das? Das, wo ich mich jetzt befinde? Die gleichen Fragen hallten in seinem Kopf wider, beschatteten ihn sogar im Traum wie ein kaltblütiger Scharfschütze ohne Gewissen.
Sie fanden ihn auf einer Liste des Roten Kreuzes. Sie empfingen ihn und hießen ihn, so wie er aussah, zerfetzt und verwirrt, willkommen und verliehen ihm eine Auszeichnung. Aus der Baracke des Flüchtlingszentrums brachten ihn Menschen die er nicht kannte, angezogen in Uniformen mit Zeichen, die er nicht kannte, zu anderen Leuten in ausgetragenen altmodischen Anzügen, die er nicht kannte, die ihm einen Orden verliehen, dessen Reliefs er nicht kannte. Sie sagten ihm, wenn er die Arbeit annehmen würde, würde er eine Wohnung und den Titel des Akademikers erhalten.
– Was für eine Arbeit? – fragte sie der Alte mit der Naivität eines Kindes
– Professor Radivojević, neue Karten müssten eingezeichnet werden! – antworteten die Leute fast einstimmig.
– Neue kommunale Grenzen, territoriale Grenzen, Grenzen der serbischen und jene ihrer Länder, Trennungslinien, Karten der Minenfelder. Da gibt es noch eine Menge Arbeit, Professor, und Gott selbst hat sie hier hergeschickt! – fügte der Mann in seinen späten Dreißigern, unreif, um Führender zu sein, obwohl ihm gerade diese Rolle zugeteilt wurde, hinzu.
Ihm schien, als sei dies eher des Teufels eigenes Werk. Es schien ihm, nichts mehr zu erkennen – weder die Menschen, noch das Land, weder die Fahnen, noch die Wappen, auch nicht die Grenzen. Es schien ihm, er würde seine Galle auskotzen, wenn er versuchen würde nur noch eine einzige Linie zu ziehen. Es schien ihm, seine Hand würde sofort austrocknen oder aus seinem Ellenbogen reißen, wenn er einen Stift ergreifen und irgendeine Linie ziehen würde.
Linien!
Sie waren früher seine schmackhaften Liebhaberinnen und Funken, die seine Begierde entfachten. Jetzt ekelte ihn auch der geringste Gedanke an sie, als hätten sie sich in heruntergekommene falsche Huren verwandelt, die von niemanden mehr gewollt und von niemanden mehr befriedigt werden können. Der Raum, für den er glaubte, ihn gut zu kennen, besser als alle Anderen, grinst nun mit seiner unbekannten, verzerrten Fratze in sein Gesicht wie ein Raubtier, das die Hitze des brodelnden Blutes riecht. Diese Grenzen, die geraden afrikanischen, genauso wie auch die natürlichen Grenzen, die sich wie besoffen entlang der Kordilleren schlängeln, und die, die früher das Gute vom Schlechten, das Moralische vom Unmoralischen, unseres vom ihrigen trennten, und alle ausgedachten, eingebildeten, gut durchdachten und aufgedrängten Grenzen, die er kannte, sie alle machten in seinem Kopf ein Durcheinander und hinterließen eine Angst vor der Unkenntnis und ein Chaos des Unwissens. Deshalb konnte er sich auch nicht an die ihm angebotene Arbeit der Einzeichnung der Grenzen machen. Er bedankte sich höflich und ging in die dunkle Nacht, ließ den Orden auf dem mit rotem abgenutzten Tuch verkleideten Tisch liegen, dessen helle Tage unter den Erdklumpen der letzten Schaufel von der letzten Jugendarbeitsaktion vergraben geblieben sind.
Kurz darauf starb Professor Radivojević in einem Raum, in dem er sich keine Privatsphäre leisten konnte, weil er sie mit zehn weiteren Pechvögeln teilen musste. Diese Leute erzählten später, er habe alltäglich Briefe mit Ersuchen um eine Zulassung für das Verlassen des Landes an zahlreiche Botschaften und Konsulate verschickt. Der Professor wusste nicht (oder wollte es nicht wissen), daß einige neue Linien, neue Grenzen gezogen wurden, und dass gegen die Theaterbühne Europas der Eiserne Vorhang so stark wie der Schlag des Hammers des wütenden Thor gefallen ist. So stark, daß auch die Berge und die Flüsse und die Grenzen auf den ehemaligen Karten erschütterten. Und diese neuen Linien sollten die Spreu vom Weizen, die Zivilisierten von den Barbaren, die Epidemischen von den Gesunden trennen. Er war, in der Tat nicht durch seine Schuld, als Barbar, als Spreu und als ansteckende Seuche gebrandmarkt. Gerade deshalb haben sie ihn nicht dort über die Linie gehen lassen.
Linien!
Es scheint, dass nur sie ewig, aber doch nicht beständig sind. Sie waren immer da und werden auch immer da bleiben. Starr und porös, real und imaginär, verhasst und geliebt, sie werden uns sicher überleben. Das bestätigen auch die zwei gekreuzten Linien oberhalb des Grabhügels, auf denen der Name des Professors und sein Geburts- und Todesjahr eingraviert sind. Das ist alles, was von ihm übrig geblieben ist. Linien!
Berislav Blagojević
Lebenslauf: Berislav Blagojević ist 1979 in Slavonski Brod geboren. Er ist Magister der geographischen Wissenschaften. Er veröffentlichte vier Bücher und 2012 seine letzte Sammlung mit Kurzgeschichten „Der Revolutionär“. In verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte er Gedichte und Prosastücke. Seine Werke wurden in zahlreichen Anthologien aufgenommen. Er ist Träger einiger Preise, die wichtigsten davon sind: das Stipendium des „Borislav Pekić-Fonds“; erster Preis nach der Teilnahme am Literaturwettbewerb „Nachbarn“, organisiert gemeinsam vom Goethe-Institut und vom französichen Kulturinstitut aus Sarajewo; 2011 erhielt er nach der Teilnahme an einem von der Zeitschrift „Avlija“ aus Montenegro veröffentlichtem Wettbwerb den Preis für die beste regionale Kurzgeschichte. Seine Werke wurden in die englische, polnische, spanische, maltesische und in die mazedonische Sprache übersetzt. Er lebt und arbeitet in Banja Luka.
Übersetzung: Michael Resanović
[1] Anmerkung des Übersetzer: Der Name Ratimir bedeutet in der Übersetzung Kriegundfrieden