«Solange ich verletzlich bleibe,
kann ich weiterschreiben.»
- Aglaja Veteranyi
Eine Schriftstellerin, ein Schriftsteller lebt nach ihrem Tod in ihren Werken weiter, heißt es – in den Gedanken, in den Phantasien ihrer Leser. Es gibt noch eine weitere Art, wie Geschriebenes weiterlebt: indem andere Schreibende es aufnehmen, verwandeln und auf ihre je eigene Weise weiterdenken.
- Rudolf Bussmann und Martin Zingg (drehpunkt Nummer 114)
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Aglaja Veteranyi |
peitsche deine inspiration
(unbekannterweise an aglaja veteranyi)
peitsche deine inspiration
sagte sie
peitsche deine träume
erwürge sie
und klebe ihre leichen an die decke
verlasse dein zuhause
verlasse deine eltern und kinder
für immer
sagte sie
über den höllenrand
durfte ich sie betrachten
für immer
wie sie meine eltern und kinder
liebte
meine erinnerung
peitschte
in dem haus meiner träume
eines tages
hing sie an der decke
erwürgt
am hacken meiner inspiration
Anni-Lorei Mainka
juli 2004/köln
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das Gedicht hat den Lyrikpreis der Bibliothek der Deutschsprachigen Lyrik 2005 gewonnen...
Photo: Aglaja Veteranyi (1962 - 2002)
ich empfehle ihre Bücher:
Warum das Kind in der Polenta kocht. Roman, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999.
und Das Regal der letzten Atemzüge. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/ München 2002.
Am 3. Februar 2002 verübte die Autorin und Schauspielerin Aglaja Veteranyi Selbstmord. In ihrer Hinterlassenschaft hat sich ein Buch gefunden, „Das Regal der letzten Atemzüge“, das nahtlos an ihr Debüt „Warum das Kind in der Polenta kocht“ anschliesst.
Aglaja Veteranyi
Ana lebt
Die Ana in Ana wackelt.
Sie fällt nach links, nach rechts, in den Arm, in ein Bein, ins Auge.
Ana weint lange Tränen.
Das Gesicht tut weh.
Die Augen.
Die Zunge.
Das Wetter.
Ana zieht die Mundwinkel hoch.
Ana zieht die Mundwinkel hoch.
Ana zieht die Mundwinkel hoch.
Wenn das Glück nicht kommt, nimmt Ana eine Pille, die ihr sagt, dass sie glücklich ist.
Wie ist das Glück klein, dass es in einer Pille Platz hat, denkt Ana.
Ich bin eine ganze, sagt Ana zu Ana.
Ana fällt vom Stuhl.
Ana fällt die Jacke aus der Hand.
Ana fällt ein Wort aus dem Mund.
Ich bin eine ganze, sagt Ana zum Spiegel.
Im Spiegel ist ein Gesicht.
Ana legt sich hin.
Ana steht auf.
Ana öffnet das Fenster.
Im Spiegel wartet das Gesicht.
Ana friert.
Ana zieht sich die Jacke an.
Ana zieht sich die Decke an.
Ana zieht sich den Schlaf an.
Ana hat die Aubergine gegessen.
Die Aubergine war klein und breit und hiess Ana.
Sie hatte ein Gesicht und lachte.
Sie hatte ein Grübchen.
Sie hatte Zähne.
Sie hatte einen lieben Gott im Auge.
Sie hatte ein Pipi, eine Mutter und eine Decke.
Ana lacht sich aus dem Schlaf.
Das Zimmer ist abwesend.
Anas Haut ist schnell geworden.
Ana hat die Angst gegessen.
Ana hat den Tod gegessen.
Der Tod ist lang.
Er liegt auf Anas Gesicht und schläft.